Dr. Markus van Blankenstein und die heimlichen Aktivitäten

Die Niederlande haben in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts stets prinzipiell eine neutrale Politik geführt. Im l. Weltkrieg haben sie damit Erfolg gehabt.

Andere Länder wurden überwältigt, aber die Niederlande verstanden es, sich aus den Kriegshandlungen herauszuhalten. Auch als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen,  war die niederländische Regierung ängstlich besorgt, mit ihnen in gutem Einverständnis zu bleiben. Die niederländische Ökonomie ruhte immer auf zwei Pfeilern: der eine war die Kolonie Niederländisch-Indien, der andere war das deutsche Hinterland, ökonomisch war den Niederlanden sehr an einem guten Einvernehmen mit den Machthabern in Berlin gelegen, wie es in der Tat auch war. – Außerdem war Hitler – das wird wohl manchmal vergessen – auf einem demokratischen Weg an die Macht  gekommen.Trotz der hartnäckigen Neutralitätspolitik haben in den Jahren nach 1933 und bevor Hitler am 10. Mai 1940 in die Niederlande einfiel, allerhand politische Aktivitäten stattgefunden, die direkt oder indirekt gegen die Naziregierung in Deutschland gerichtet waren.

Diese entgegengesetzten Aktivitäten waren – formell gesehen – folglich meistens illegal. Die niederländische Regierung ließ sie – sofern sie davon wußte – sich unwissend stellend  zu. Offiziell wußte sie meistens nichts.In einer Reihe von Antinaziaktivitäten spielte der Journalist, Dr. Marcus van Blankenstein, eine wichtige Rolle.Bevor ich Ihnen über seine heimlichen Vorkriegsaktivitäten berichte, werde ich Ihnen in großen Zügen erzählen, wer van Blankenstein eigentlich war.Marcus van Blankenstein wurde 1880 in Ouderkerk an der Ÿssel in der Familie eines wohlgestellten orthodox-jüdischen Metzgers geboren. Er war zu unternehmungslustig und beweglich für den „klassischen“ Schulunterricht. Jedenfalls spielte sich dort auf der Dorfschule hierin nicht viel ab. Deshalb holte sein Vater ihn von der Schule herunter, kaufte ihm ein Fahrrad und beauftragte ihn, mittels diesem den Kunden in der weiteren Umgebung des Deich-und Polderdorfes das Fleisch zu liefern. Marcus sollte sein Leben lang ein schneidiger Radfahrer bleiben.Als Marcus seine Sturm- und Drangperiode ein wenig überwunden  hatte, suchte er doch noch nach einem Weg, seine Lernbegierde zu befriedigen. Er fand Kontakt zu einigen Lehrern des Goudse-Gymnasiums. Diese unterrichteten ihn bis zum Abitur. Er war 22 Jahre alt, als er es bestand. Darauf ging er nach Leiden, um Niederländisch zu studieren.

In Leiden erwies er sich als ausgezeichneter Student, der vier Jahre später – in 1906 – sein Dr.-Examen mit „cum laude“ bestand. Seine Hochschullehrer sahen in ihm einen zukünftigen Nachfolger. Sie besorgten ihm Finanzmittel, so daß er dort weiter Philologie studieren konnte. In Leiden jedoch hatte er sich in eine Kommilitonin namens Nelly Lohr verliebt, ein intelligentes Mädchen aus Haarlem, das dort in einer großen liberalen Familie aufgewachsen war. Marcus hatte nun zwar ausreichend finanzielle Mittel, aber konnte Nebenverdienste natürlich gut gebrauchen. Das galt umso mehr, als Nelly.Lohr schon bald zu ihm nach Kopenhagen zog. Darum begab er sich zum Chefredakteur der „Nieuwe Rotterdamsche Courant“ und fragte ihn, ob die NRC an fachgerecht geschriebenen Briefen aus Dänemark interessiert sei. Der Chefredakteur reagierte nicht begeistert: „Schicke doch einmal einen solchen Brief – aber ich verspreche nichts.“ Darauf reagierte Marcus. Der erste Brief van Blankensteins wurde jedoch vollständig gesetzt. Das geschah auch mit den darauffolgenden.Zwischendurch arbeitete van Blankenstein rastlos an seiner Examensarbeit. 1911 promovierte er „cum laude“ mit seiner in Deutsch geschriebenen philologischen Dissertation. Inzwischen war er zum „Vollzeitjournalisten“ geworden. Die NRC hatte ihn 1909 zu ihrem Korrespondenten in Berlin ernannt. Dort in der Hauptstadt des deutschen Kaiserreiches, am Vorabend des l. Weltkrieges, in einer spannenden Periode der Weltgeschichte, reifte er zum „Top-Journalisten“ heran. Van Blankenstein war befähigt, leicht Kontakte zu knüpfen. Bald schon kannte er viele Politiker und Regierungsvertreter persönlich und erfuhr durch sie, was sich in der Politik in Deutschland abspielte. Seine Publikationen in der NRC erlangten in den Niederlanden schon bald große Berühmtheit. Aber nicht nur das. Die ausländischen Vertretungen in Den Haag meldeten in den Rapporten an ihre Regierungen ausführlich über die Publikationen des Berliner Korrespondenten der NRC. Wer sich in diesen Jahren über die Zustände in Berlin und an der deutschen Kriegsfront orientieren wollte, mußte die NRC lesen.Schon in seiner Berliner Zeit fungierte van Blankenstein manchmal als Vermittler zwischen ausländischen Regierungen, die nicht direkt miteinander reden mochten. Als er z.B. 1917 auf dem Weg nach Petrograt, dem heutigen St.Petersburg, war, um dort Vertreter der vorläufigen Regierung Rußlands zu treffen, versuchten einige österreichische Diplomaten in Stockholm ihn zu überreden, sich bei den Russen nach den Bedingungen für einen Sonderfrieden zu erkundigen .1920 nahm die Familie van Blankenstein ihren Wohnsitz in Den Haag. Marcus wurde NRC-Reiseredakteur. Als solcher unternahm er große Reportagereisen durch Osteuropa, Rußland, China, Niederländisch-Indien und Afrika» An allen großen internationalen Konferenzen von Staatsmännern und Diplomaten nahm er in der Zwischenkriegszeit im Auftrag der NRC teil. Er kannte die Machthaber der Erde vielfach persönlich, und was noch wichtiger war, sie kannten ihn auch. Bei der Versammlung des Völkerbundes in Genf spielte er eine bedeutende Rolle im internen Kreis der internationalen Journalisten. So wurde er zum Vorsitzenden der Vereinigung der Völkerbundjournalisten.Van Blankenstein war ein Journalist, der stets mehr wußte, als er in seiner Zeitung schrieb. Er konnte deshalb oft in Gesprächen mit Diplomaten und Politikern Informationen austauschen. Ausländische Staatsmänner ließen oft durch ihn Neuigkeiten bekannt machen. Bis 1937 geschah das durch die NRC, die in jenen Jahren ERSTE der neutralen Niederlande war, zumal was auswärtige Politik anbetraf. Als die NRC sich in den Jahren der Krise die teuren Weltreisen ihres Reiseredakteurs nicht mehr erlauben konnte, wurde van Blankenstein in Rotterdam Redakteur der Auslandsrubrik „De Toestand“ („Der Zustand“).Als Journalist hatte van Blankenstein seine Verbindungen in entgegengesetzten Kreisen. Dabei ging es ihm primär immer um das Zusammenbringen von Neuigkeiten. – Was auch bedeutete, daß er auf Ersuchen von van Oorschot, dem Chef des niederländischen Nachrichtendienstes (GS IIl), als Kontaktperson zwischen dem niederländischen und dem britischen Nachrichtendienst fungierte.Er war nicht, wie Dirk Hespers ihm neulich in den in den „Zeitzeugnissen“ unterstellte, Chef des „Britischen Dienstes“. Das war in jenen Jahren Richard Stevens. Die niederländische Neutralitätspolitik ließ eine direkte Zusammenarbeit mit ausländischen Nachrichtendiensten nicht zu. So konnte es geschehen, daß die Villa von Marcus und Nelly van Blankenstein in Wassemaar zum Treffpunkt für verschiedene Menschen, die in geheimen Nachrichtendiensten arbeiteten, wurde. Darunter waren Offiziere sowohl des britischen als auch des niederländischen Nachrichtendienstes. Ende der 30-er Jahre fungierte er als Bindeglied im Netzwerk, welches den britischen Nachrichtendienst in Den Haag mit Nachrichten versorgte. Er führte potentielle Informanten ein, gab Aufträge weiter an Dritte und regelte sogar die Bezahlung an Agenten. Bei alledem ging es ihm nicht nur darum, selber als Journalist Informationen zu bekommen, sondern zweifellos auch um ideologische Erwägungen: van Blankenstein war erfüllt vom Abscheu gegen den Nationalsozialismus.Ein anderes nachrichtendienstliches Netzwerk, womit van Blankenstein sich in den 30-er Jahren beschäftigte, war das „Jewish Central Information Office“ (JCIO) („Der Zentrale Jüdische Informationsdienst“) in Amsterdam. Die Dokumentation, worüber dieses Büro verfügte, war größtenteils von Alfred Wiener, einem deutschen Juden, der in den 20-er Jahren Hauptsekretär im „Zentralverein Deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens“ war, zusammengestellt worden. In dieser Funktion war er regelmäßig in Konflikt gekommen mit dem militanten Antisemitismus in Deutschland und sammelte darüber Zeitungsausschnitte und Zeitschriftenartikel. – Als Hitler an die Nacht kam, flüchtete er mit seiner inzwischen umfangreich gewordenen Sammlung nach Amsterdam, wo er mit dem Klassiker David Cohen das „Jewish Central Informations Office“ gründete. Ihre wichtigste Aufgabe bestand in der Aufklärung über die drohende Gefahr durch den Nationalsozialismus. Cohen und van Blankenstein waren schon seit ihrer Studienzeit in Leiden miteinander befreundet. Nachrichten über die antijüdischen Maßnahmen in Deutschland, die Cohen lieferte, verarbeitete van Blankenstein in seinen Zeitungsartikeln und lieferte sie weiter an seine ausländischen Kollegen. So war auch die ausländische Presse in der Lage, Cohens Nachrichten in ihren Berichten zu verarbeiten. Aber daß er in den Maitagen von 1940 die Gelegenheit, aus den Händen der Nazis zu bleiben, nicht nutzte, zeugt meiner Meinung von großem Mut.Ich komme jetzt zu einem ganz anderen Nachrichtennetzwerk, die „Deutsche Jugendfront“. Die Jugendfront war eine Bündelung von deutschen antinazistischen Jugendorganisationen, die beim Machtantritt Hitlers ihre Aktivitäten im Untergrund fortgesetzt hatten. Das Publikationsorgan der Jugendfront war die „Kameradschaft – Schriften junger Deutscher“, eine wichtige Zeitschrift, die ab 1937 zuerst in Brüssel und später in Amsterdam herausgegeben wurde. Die Initiatoren waren der aus Deutschland geflüchtete römisch-katholische Jugendleiter Theo Hespers und der ebenfalls aus Deutschland stammende Jugendführer Hans Ebeling. Mehr als einige andere Emigrantenblätter war ihr Periodikum gekennzeichnet durch .ihre unverblümter Kommentare über das Hitlerregime.Ebeling und Hespers lieferten auch Beiträge für andere antinazistische Publikationen, wie z.B. „Het Filter“ („Der Filter“), das monatliche Presseorgan der „Stichting Nederlandsche Jongeren Pers-Comissie“ („Stiftung Niederländische  Jugendpresse-Kommission“). Die Zeitschrift würfle verbreitet unter den Führungsmitgliedern der wichtigsten politischen Jugendorganisationen der Niederlande. Der Vorsitzende von diesem „Jugendpressekomitee“ („Jongerenperscomite“) war Piet Brijnen, der die Aufklärung besorgte für die Bewegung „Einheit durch Demokratie“ („Eenheid door Democratie“). Diese Bewegung war 1935 gegründet worden, um das niederländische Volk gegen den Faschismus und Kommunismus wehrbar zu machen. Brijnen, der über sein eigenes Nachrichtennetzwerk verfügte, war von van Blankenstein als Informant des britischen Nachrichtendienstes angeworben worden.Van Blankenstein war für Ebeling und Hespers in vieler Hinsicht ein älterer Ratgeber. Die Gruppe um die Zeitschrift „Kameradschaft“ nannte ihn „Onkel Julius“. Van Blankenstein führte Ebeling und Hespers bei seinen Verbindungen im In- und Ausland ein und half ihnen beim Werben für finanzielle Mittel für ihre antinazistischen Publikationen. Andererseits kamen sie fast wöchentlich zu ihm nach Hause, um ihn über die jüngsten Entwicklungen in Nazi-Deutschland auf dem Laufenden zu halten. Ebeling zog 1939 nach England.Mittlerweile hatte Hespers an der niederländisch-deutschen Grenze ein wertvolles Netzwerk von Kontakten aufgebaut. Van Blankenstein brachte Hespers in Kontakt mit Major Stevens vom britischen Nachrichtendienst und mit dem Tschechen Karel Erban. Erban war Presseattache  bei der tschechischen Gesandtschaft in Den Haag, was natürlich ein Deckmantel für seine Nachrichtenaktivitäten war. Hespers sammelte allerlei militärische Informationen für die Briten und Tschechen, wobei ihm Hilfe zuteil wurde von seinem Freund Max Beretz, einem jüdischen Radiotechniker. Hespers wurde für seine Informationen bezahlt, wobei van Blankenstein als Vermittler auftrat.Van Blankenstein stand auch im Kontakt mit der Amsterdamerin Sarah-Cato (Selma) Meijer, der Sekretärin der Hauptverwaltung vom „Internationalen Frauenbund für Frieden und Freiheit“. Sie war Besitzerin einer Kopiereinrichtung, dem „Holland Typing Office“ am Damrak (Straße in Amsterdam) und hatte Freundschaft geschlossen mit Hans Ebeling, den sie in Brüssel bei einer Familie kennengelernt hatte. Sie lieh ihm Geld und stellte die Dienste ihres Betriebes der Gruppe um die „Kameradschaft“ zur Verfügung. Schon bald war ihr Druck-, Schreib- und Versandbüro die zentrale Produktionsstätte für die antinazistische Broschüre.Über Selma Meijer lernte van Blankenstein die deutsche Juristin Johanna Weitz kennen, die auch aktiv in der internationalen Friedensbewegung war. Sie war Beamtin in einer Strafanstalt in Thüringen, und es war ihr gelungen, einzelne politische Gefangene vor den Händen der Gestapo zu schützen. Im März 1939 hielt sie im Quäkerhaus in Amsterdam eine Vorlesung vor niederländischen Juristen. Am folgenden Tag kam van Blankenstein in Gesellschaft von Stevens, um sie mit dem Auto abzuholen. Stevens forschte sie nach den Zuständen in Deutschland aus. Unterwegs nach Wassenaar hatten sie in einem Restaurant in Oegstgeest mit Major van der Plassche vom niederländischen Nachrichtendienst ein Gespräch. Zu Hause bei van Blankenstein trafen sie noch einen weiteren Offizier des britischen Nachrichtendienstes. So kam Johanna Weitz via van Blankenstein innerhalb weniger Stunden in Kontakt mit drei Agenten des ausländischen Nachrichtendienstes. Dergleichen Besuche in den Niederlanden hat sie danach noch verschiedene Male wiederholt. Im Januar 1940 jedoch führten ihre Widerstandsaktivitäten, die sicher nicht auf Besorgen von Nachrichten an ausländische Offiziere begrenzt waren, zu ihrer Verhaftung. Sie kam in das Konzentrationslager (KZ) Sachsenhausen, wo sie Stevens wiedertraf.Bis so weit die Antinaziaktivitäten in den neutralen Niederlanden der letzten 30-er Jahre, worin der Journalist Marcus van Blankenstein eine Rolle spielte. Wie ich im Verlauf schon anmerkte, war van Blankenstein nach 1936 als Journalist nicht mehr mit der NRC verbunden. Den Nazis war viel daran gelegen, seine Kommentare über die Zustände in Deutschland zu beenden. Auf vielerlei Weise setzten sie seine Rotterdammer Zeitung unter Druck. Dabei schalteten sie bekannte Rotterdamer Kaufleute ein, wie z.B. Mr. K.P. van der Mandele und van Beuningen, die großes Interesse am „deutschen Hinterland“ hatten („deutsches Hinterland“ – feststehender niederl. Ausdruck – d.h. aus der Sicht der Niederländer = Absatzmarkt). Diese setzten wechselseitig Nijgh, den Direktor der Zeitung, unter Druck. Sie meinten, daß van Blankenstein zumindest einen „Ton tiefer singen“ sollte, wenn es sich um Deutschland handelte. Aber am liebsten hätten sie gesehen, wenn , er ganz bei der Zeitung verschwunden wäre. Dazu kam, daß van Blankenstein, der selbst im Umgang auch nicht der umgänglichste Mensch war, mit dem neuen Hauptredakteur überhaupt nicht zu recht kam. Es entstand ein Konflikt, der damit endete, daß der international berühmte Journalist aus Rotterdam wegzog. Glücklicherweise konnte er unmittelbar danach sofort bei dem „Utrechtsche Nieuwsblad“, wo Mr. G.J. van Heuven Goedhart Chefredakteur geworden war, anfangen. Die beiden machten aus dem Provinzblatt in kurzer Zeit eine Zeitung, die überall in den Niederlanden gefragt war.Sie werden sich sicher fragen, woher ich die Informationen über die geheimen Antinaziaktivitäten in den 30-er Jahren hergeholt habe. Nun, das sind an erster Stelle die Berichte der parlamentarischen Befragungskommission im Regierungsamt während des Krieges. Darin findet man viel wissenswertes Material über den militärischen Nachrichtendienst.Theo Hespers kam ich auf die Spur Dank eines Briefes seines Sohnes Dirk, der mich um Informationen über seinen Vater bat. Im Anfang konnte ich ihm nicht helfen; denn in den Niederlanden war nichts über die „Deutsche Jugendfront“ und die Gruppe um die „Kameradschaft“ veröffentlicht worden. – Die beste Information fand ich in einem Essay von Arno Klönne in der Ausarbeitung „Nederland en het Duitse Exil“ („Die Niederlande und das deutsche Exil“). Beim „Reichsinstitut für Kriegsdokumentation“ („Rÿksinstituut voor Oorlogsdocumentatie, RIOD“) in Amsterdam fand ich danach Berichte über Verhöre, welche die Besatzer von einzelnen Niederländern, die mit der Gruppe Ebeling und Hespers verwickelt waren, aufgezeichnet hatten. In dem persönlichen Archiv von van Blankenstein im „Allgemeinen Reichsarchiv“ („Algemeen Rÿksarchiv“) in Den Haag fand ich die Korrespondenz, die er nach dem Krieg mit Johanna Weitz geführt hatte.Schließlich fand ich noch das eine und andere van Blankenstein-Dossier beim BVD in Den Haag. Andere BVD-Dossiers, die ich befragen konnte, bekam ich leider nicht mehr zu sehen als Folge einer Beratung im „Staatsrate“ („Raad van Staate“) Ende 1995. Diese Beratung beendete den beträchtlichen Zugang zu Personendossiers für historische Forschung. Zum Glück fand ich darauf im Bundesarchiv in Berlin noch ein komplettes Archiv, was die Nazis über die Gruppe um die „Kameradschaft“ angelegt hatten. Das war natürlich nicht nur für mich, sondern auch für die „Theo-Hespers-Stiftung“ in Mönchengladbach eine wertvolle Entdeckung.Sie werden sich jetzt fragen, wie es weiter mit Marcus van Blankenstein gegangen ist. Er war doch ein Jude. Die Nazis waren doch scharf auf ihn. Tatsächlich hätten die Nazis ihn gerne gegriffen, einen Mann mit solch großen Kenntnissen über illegale Netzwerke. Einer, der sich so auskannte mit dem Funktionieren von ausländischen Nachrichtendiensten. Van Blankenstein sagte auf seine alten Tage wohl schon einmal, daß er in seinem Leben viel Glück gehabt habe. Und dann dachte er auch an seine Flucht in den Maitagen von 1940.An einem der ersten Kriegstage schoß ein niederländisches Flugabwehrgeschütz ein deutsches Flugzeug ab, das bei Oekenburg in Den Haag niederkam. In diesem Flugzeug befanden sich allerlei Instruktionen für eine Einsatzgruppe, unter anderem befand sich darunter eine Fahndungsliste, eine Liste mit den Namen von Personen, die so schnell wie möglich aufgespürt und gefangen genommen werden mußten.Auf dieser Liste stand auch Dr. M. van Blankenstein.Die Briten regelten es, daß  van Blankenstein auch mit dem Schiff übersetzen durfte. Sie hatten natürlich auch Interesse daran, daß der Mann, der so viele geheime Informationen in seinem Kopf hatte, nicht in die Hände der Feinde fallen durfte. Sie sorgten dafür, daß Nelly van Blankenstein gewarnt wurde. Van Blankenstein selbst radelte sogleich von Westend nach Hoek van Holland durch. Dort angekommen, wollte niemand glauben, daß er noch lebte. Man glaubte dann auch nicht, daß er der bekannte Journalist war. „Beweise das zuerst mal !“ sagten die Beamten der Marechaussee zu ihm. Glücklicherweise war einer von ihnen Abonnent des „Utrechtsch Nieuwsblad“. Er wußte als Leser noch genau, was van Blankenstein in den letzten Tagen publiziert hatte. Erst als der Journalist das Gelesene genau nachzuerzählen vermochte, wurde ihm Glauben geschenkt. Und so durfte van Blankenstein an Bord des britischen Marineschiffers kommen. Nelly van Blankenstein, die ihre Wohnung Hals über Kopf verlassen hatte, kam mit ihrer Schwiegertochter und zwei Kleinkindern in einem Taxi angefahren. Ihr Sohn Heimon van Blankenstein, Amtmann für ökonomische Angelegenheiten, konnte an den folgenden Tagen aus Ÿmniden entkommen.So wußte Marcus van Blankenstein zusammen mit seiner Familie den Nazis zu entkommen. Er war damals 60 Jahre alt. Nicht lange danach war er Hauptredakteur der „Londoner Freie Niederlande“ („Londonse Vrÿ Nederland“), das einzige niederländische Wochenblatt, was in England erschien. Nach dem Krieg war er bis zu seinem Tode 1964 ein sachkundiger Kommentator der ex-illegalen Zeitung „Het Parool“ („Die Parole“). An Ehrbezeugungen ihm gegenüber hat es Zeit seines Lebens nie gefehlt. Er hat das genossen; denn nichts Menschliches war ihm fremd.Wie ich Ihnen erzählte, ist die Familie Heimon van Blankenstein nach England geflüchtet. 1942 wurde der Familie in London noch ein drittes Kind geboren, ein Mädchen, und das steht nun vor Ihnen. Jahre später habe ich mich als Historikerin vertieft in das fesselnde Leben meines Großvaters. So spürte ich 30 Jahre später seine geheimen politischen Aktivitäten auf. Lebensgefährliche Aktivitäten wie es später schien. Es hat dann auch nicht für alle seine jungen Freunde gut geendet.Alfred Wiener ging 1939 nach England unter Mitnahme seiner umfangreichen Dokumentation über den Antisemitismus. In London kann diese Dokumentation noch stets in der Wiener Library zu Rat gezogen werden.Als die Deutschen den „Jüdischen Rat“ (in den Niederlanden) nicht mehr benötigten, wurde auch David Cohen ins Konzentrationslager geworfen. Bekanntlich hat er den Krieg überlebt.Auch die energische Johanna Weitz bekamen die Nazis nicht klein; aber die Gestapo hat sie in ihrer langen Gefangenschaft so schrecklich mißhandelt, daß sie für den Rest ihres Lebens verkrüppelt war.Selma Meijer befand sich während der Maitage 1940 in Südfrankreich. Wegen ihrer alten Mutter und wegen ihres Personals, was von ihr abhängig war, kam sie nach Amsterdam zurück. Dort wußten die Nazis sie schon bald ausfindig zu machen. Die Nazis schleppten sie nach Berlin, wo sie an den Folgen von Mißhandlungen nicht lange darauf in einem Krankenhaus gestorben ist.Theo Hespers flüchtete mit seiner Ehefrau und ihrem Söhnchen Dirk nach Belgien. Dort fiel er Anfang 1942 doch noch der Gestapo in die Hände. Im Sommer 1943 stand er vor Gericht, dem Volksgerichtshof in Berlin, der ihn zum Tode verurteilte. Am 9. September 1943 wurde er in einem Berliner Gefängnis gehängt. Auch sein Kamerad Max Beretz bezahlte seinen Einsatz für die Friedensbewegung am 24. September 1942 in Berlin mit dem Tode.Als Enkelin von „Onkel Julius“ gedenke ich dieser mutigen Idealisten mit großer Ehrfurcht.

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